Der verstärkt wahrzunehmenden Entwicklung als »Modediagnose« liegen zweierlei Besonderheiten der menschlichen Psyche zugrunde:
Schubladendenken
Generell neigen Menschen dazu, Dinge die sie wahrnehmen, leichthin in eine Schublade zu stecken, damit es später ebenso leicht fällt, sie dort zu finden, zu kategorisieren und herauszuholen. Heute gibt es immer mehr, oft gänzlich unreflektierte »Schubladen-Wahrnehmungen«: »Terrorist«, »Rassist«, »Verschwörungstheoretiker«, »Frauenfeind«…., aber auch andere unreflektierte Schubladen, in die Menschen eingepasst werden, z.B. »Gender-Mainstream«, »globaler Mensch«, usw.
Unschuldsvermutung
Eltern haben es sicher gern oder »hören« es sicher lieber, wenn sie im Verband mit aufgetauchten Verhaltensoriginalitäten möglichst nicht »schuld« sind. So sind zuweilen eine rasche Diagnose wie ADHS oder Dyskalkulie, Legasthenie u.a. unter Umständen mehr als willkommen.
Doch diese Verschuldensangst sollten bzw. müssen Sie, liebe Eltern und Bezugspersonen, auch gar nicht haben.
Sagen wir es hier mit Andre Gide, dem bekannten Schriftsteller: Der größte Fehler im Leben ist es, ständig Angst zu haben, einen Fehler zu machen.
KONZENTRUM möchte Ihnen einen noch viel positiveren Blickwinkel dazu eröffnen: Sofern Sie tatsächlich Verhaltensmuster bei sich selbst orten können, die ursächlich mit den Verhaltensbesonderheiten Ihres geliebten Kindes korrelieren, erlauben Sie sich doch eine ganz entspannte und motivierende Sichtweise: »Nur dann, wenn ich selbst möglicherweise der Verursacher für ein Verhalten bin, kann auch ich selbst möglicherweise jederzeit etwas daran ändern!« Den Wunsch nach Veränderung und die oft zahlreichen und gar nicht so komplizierten Möglichkeiten brauchen Sie bloß zulassen und Ihr Kind authentisch darauf einstimmen. Schon haben Sie in einem vermeintlichen »Fehler« ein neues Potential und vielleicht sogar einen neuen Zugang zu Ihrem Kind gefunden!
Also, los! Nicht Fehler suchen und daran verzweifeln, sondern Potentiale zur Veränderung erkennen.
Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders ist, aber damit es besser wird muss es anders werden.
Jostein Garde
Im Gegensatz zu den eben beschriebenen Eltern, die dazu tendieren »eher von einem Vorliegen von ADHS überzeugt zu sein«, finden sich beispielsweise in der Praxis von Erziehungsberatern oder Therapeuten auch viele Eltern ein, die von tiefer Verunsicherung durchdrungen sind und jede Medikation oder Intervention in Richtung ADHS erstmal strikt ablehnen. Diese Personen sind besonders empfänglich für Psycho-Education im klassischen Sinne, also z.B. für die Hilfe durch einen Erziehungsberater, aber auch für den multimodalen Ansatz.
Doch eines sollten wir festhalten: Die Grenze zwischen nicht behandlungsbedürftigen und behandlungsbedürftigen Betroffenen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben und macht es zuweilen schwierig, eindeutig zu sagen, ob nun ein klassisches ADHS vorliegt oder nicht.
Wie es Eltern sehen
In der täglichen Praxis einer Eltern-Beratung, z.B. beim Verein KiddyCoach, trifft man derzeit auf zwei ganz konträre Sichtweisen:
Da gibt es gar nicht so selten jene Eltern, die so etwas wie Angst davor haben, es könnte vielleicht die Diagnose ADHS gestellt werden, und in der Folge könne jemand aus dem schulischen Umfeld oder aufgrund »medizinischer Indikation« darauf bestehen, dass ihr Kind medikamentös behandelt werden müsse.
So, wie Michaels Mutter….
Fallbeispiel: Chaos im Kopf
Michael (8) ist offenbar ein echter Zappelphilipp! Das merkt man nicht nur, wenn man ihm gegenübersteht und sich intensiv um seine Aufmerksamkeit bemühen muss. Sobald man sich mutig getraut, kurz in sein Zimmer zu schauen, findet man es ziemlich sicher in einem chaotischen Ausnahmezustand vor: unzählige angefangene Spiele liegen herum. Im Gespräch mit ihm merkt man, wie viele »Projekte« der Bub offensichtlich im Kopf hat und keines scheint er als abgeschlossen zu betrachten. Am stärksten fallen seine Unruhe und die oft unmotivierten Verhaltensmuster, wie Herausrufen, Aufspringen und Zappeln, natürlich während des Schulunterrichts auf! Michaels Mutter wirkt im Gespräch vor allem verunsichert, genauso, wie es wahrscheinlich viele andere Eltern auch sind: »Michi scheint sich oft nicht glücklich zu fühlen, und ich bin nun total unsicher, ob ich ihm helfen kann, wenn ich gar nicht weiß, wie er sich wirklich fühlt! Aber dass er dann nach einer ADHS-Diagnose Medikamente nehmen muss, will ich eben auch nicht!«
…und dann gibt es da noch die »Anderen«, für die alles klar zu sein scheint:
»Es muss einfach ADHS sein, was denn sonst?«
So wie bei Stefans Eltern:
Fallbeispiel: Alles klar?
»Also wir sind sehr froh, dass die Diagnose ADHS gestellt worden ist und wir ein Medikament haben, weil ohne dieses würde unser Kind den Tag nicht durchstehen!« meint der Vater, während der 11-jährige Stefan, sichtlich unangenehm berührt, dabei hockt. »Schon gar nicht den Vormittag in der Schule! Übrigens, bevor Stefan das Mittel bekommen hat, war seine Handschrift furchtbar!“
Für Stefans Eltern scheint also, wie gesagt, alles klar! Für Stefan, der sich im Gespräch selbst als »krank« bezeichnet, übrigens auch! Also keine Unsicherheiten mehr. Das Schriftbild ist eben jetzt schöner. Was will man mehr? Die Therapie (derzeit erhält der Bub ohne jede weitere begleitende Maßnahme ausschließlich die bei ADHS meistverschriebene Substanz Methylphenidat) scheint also goldrichtig! Doch trotz der vordergründigen Sicherheit treten schon während der ersten Beratung erste Ambivalenzen zutage: »Wenn ich nur wüsste«, räumt die Mutter plötzlich nachdenklich wirkend ein, »ob unser Sonnenschein sich jetzt wirklich besser fühlt? Manchmal hab´ ich nämlich das Gefühl…!« Stefans Vater fällt ihr unvermittelt ins Wort: »Und dass in der Schule jetzt alles viel besser funktioniert, seit er das Mittel nimmt, zählt für dich nicht? Das ist doch das Wichtigste, oder?« Ja, sicher, das zählt, aber…
… wie sagte schon Sigmund Freud?
Es gibt keine hundertprozentige Wahrheit, genauso wenig wie es hundertprozentigen Alkohol gibt.