Wie man sich fühlt

Ein Mensch mit ADHS wird sich wahrscheinlich zu keiner Zeit so richtig »ruhig« fühlen können. Loslassen, abschalten, herunterkommen und sich fallenlassen sind für manch einen Betroffen wohl so etwas wie »Fremdworte«!

KONZENTRUM ist es deshalb besonders wichtig, authentisch wiederzugeben, wie sich ADHS eigentlich wirklich anfühlt. Einige ausgewählte Besonderheiten (Einzelsymptome), die einigermaßen zweifelsfrei dem ADHS zugeordnet werden können, versuchen wir deshalb hier nachvollziehbar zu machen.

Impulskontrollstörung

Das tragende Symptom ist die so genannte Impulskontrollstörung. Im Gegensatz zum normal funktionierenden Frontal-Cortex im menschlichen Gehirn kann man davon ausgehen, dass ein ADHS-betroffener Mensch unwichtige Impulse nicht immer automatisch als solche einzustufen in der Lage ist. Jeder Impuls, der als Sinneswahrnehmung einstürmt, wird als nahezu gleichwertig empfunden und muss über andere kognitive Leistungskanäle bewusst ausgefiltert werden. Das ist naturgemäß überaus anstrengend. Stichwort: »Innere« und »Äußere Impulse«.

In manchen neueren Publikationen gilt diese Erklärung der schlichten »Reizüberflutung« und der damit verbundenen »Überaktivierung« bereits als zur Gänze überholt. Daher wird das überborden der Reize vielfach als physiologischer Aktivierungsmangel bezeichnet, demzufolge ADHS-betroffene Kinder eher großes Bedürfnis nach Stimulierung haben und sich äußeren Reizen mehr zuwenden als unauffällige Kinder.

Unsere Experten von KONZENTRUM können sich jedoch durchaus mit beiden Betrachtungsweisen zu gleichen Teilen anfreunden: In zahlreichen Befragungen und Fallstudien ließ sich erkennen, dass Überaktivierung infolge permanent überbordender Nebenreize die Suche nach noch mehr Impulsen keineswegs ausschließen muss.

Wir lehnen Dinge, die uns schaden keineswegs ab, wir suchen ganz im Gegenteil noch mehr desselben.
Paul Watzlawik

Wir wollen dieses Phänomen, das Paul Watzlawik in seiner »Anleitung zum Unglücklichsein« mit leichtem Augenzwinkern beschreibt, künftig in leicht verständlicher Firm einfach »Input-Sucht« nennen. Diese wird umso leichter erklärbar, wenn wir das Phänomen der »Sinnesoffenheit« ebenfalls zu verstehen beginnen…

Reiz- oder Sinnesoffenheit

Eng mit dem vorigen Einzelsymptom verbunden sind die Bezeichnungen »Reizoffenheit«, oder »Sinnesoffenheit«. Viele Fachleute verwenden in Zusammenhang mit ADHS mittlerweile sehr gerne diese ohnehin für sich selbst sprechenden Begrifflichkeiten. Aber auch als Nicht-Fachfrau oder -Fachmann kann man sich darunter sicher so einiges vorstellen: ADHS-Betroffene fallen ganz besonders durch ihre sehr leicht überreizbaren Sinne und durch ihre eben ständige Offenheit für jeden noch so kleinen Sinnesreiz auf. »Tatsächlich fühlt es sich auch genauso an!«, sagt unser Experte, Gerhard Spitzer, der selbst sehr ausgeprägt von ADHS betroffen ist. »Alle Sinne scheinen extrem geschärft, die meisten Sinnesreize, wie Geräusche, Lichteinfall, Gerüche, Berührungen, sogar Geschmacksaromen scheinen im Vergleich zu nicht betroffenen Menschen übermäßig verstärkt auf einen einzustürmen und zumeist auch viel rascher zur Belastungssituation zu führen, als man das von anderen Menschen in unmittelbarer Umgebung wahrnimmt.«

Unter Strom?

Während ihrer gesamten Wach- und leider auch während der meisten Schlafphasen stehen ADHS-Betroffene gewissermaßen ständig »unter Strom«. Es fühlt sich tatsächlich wie das Anliegen einer Strom-Spannung an und führt zu ungebremster innerer Getriebenheit, die man leider auch am äußeren Verhalten nur allzu leicht erkennen kann.

Wahrnehmung

Es lässt sich klar erkennen, dass ADHS-betroffene Menschen ihre Welt und die Abläufe um sich herum zuweilen signifikant anders wahrnehmen als andere Menschen unter gleichen Bedingungen (siehe hier). Ein Fakt der vom Umfeld nicht selten als »Charakterschwäche« ausgelegt wird.

Verlust

Aufgrund der mit ADHS einhergehenden massiven Zerstreutheit und Misserfolgserlebnissen kann sich als Comorbidität bei ADHS-Betroffenen sehr oft eine ausgeprägte Verlustangst etablieren. Legt man die tatsächlich vielen verlorenen Dinge, Gegenstände und Gedanken zugrunde, ist diese verständliche Verlustangst eine Folge des Lebens mit dieser Störung.

Selbstwert

Bedingt durch die schon vorher beschriebenen zahlreichen Misserfolgserlebnisse leidet bei ADHS-Betroffenen vor allem das Selbstwertgefühl, respektive die Selbstwahrnehmung. Deshalb brauchen ADHS-Betroffene auch tatsächlich mehr Zuspruch, Anerkennung und andere Maßnahmen, die helfen können das Selbstwertgefühl aufzurichten.

Energie

Aus der Erkenntnis heraus, dass ADHS-Betroffene ständig »unter Strom stehen«, ergibt sich schon ein erster, überaus positiver Blickwinkel: Allein aus dieser Besonderheit scheinen ADHS-Betroffene in den meisten Fällen in der Lage zu sein, schier unerschöpfliche Energien zur Verfügung zu haben und diese auch für ihre Leistungsfähigkeit auszunützen. Voraussetzung: Es muss ihnen Spaß machen, muss sie faszinieren, quasi ihre Wahrnehmung zur Gänze ausfüllen.

Hyperfokussieren

Diese Begrifflichkeit erklärt eine Handlungsebene, die ADHS-Betroffene dann einnehmen, sobald sie mit einem Feld konfrontiert sind, das sie zutiefst interessiert und mit dem sie sich persönlich sowie in ihrer Selbstwahrnehmung auch zutiefst identifizieren können. Dass bei »normalen Menschen« beim völligen Einlassen auf einen Handlungsstrang nach nicht allzu langer Zeit ein so genannter »Flow« eintritt, der ein gewisses Maß an Fokussierung erlaubt, ist ja hinreichend bekannt.

Bei ADHS-Betroffenen kann dieses Einlassen auf den Haupthandlungsstrang so weit gehen, dass eine weit gehende Unterdrückung sämtlicher Umgebungsreize wie auch eigener Bedürfnisse und Empfindungen erfolgt. In Verbindung mit dem Vorgang des Hyperfokussierens ist bei diesen Personen zuweilen auch ein völliges Verausgaben bzw. ein unkontrollierbarer Verbrauch eigener Ressourcen zu beobachten.

Hyperfokussieren kann man sich, vielleicht um des besseren Verständnisses wegen, als ein »Wandeln zwischen Euphorie und Selbstzerstörung« vorstellen.

Hinter diesem besonderen Phänomen bzw. hinter dieser Eigenschaft von ADHS-Betroffenen steht aber auch ein besonderes Potenzial: Dinge oder Handlungen, die einen ADHS-Betroffenen ganz besonders interessieren, eröffnen die Möglichkeit zu außergewöhnlich dynamischer Entwicklung bestimmter Interessen und Fähigkeiten. Dieses Potenzial steht in genauem Gegensatz zu den sonst bei ADHS-betroffenen Menschen wahrgenommenen Leistungsdefiziten.

Prokrastination (»Aufschieberitis«)

Ganz klar verbunden mit dem schon beschriebenen geschwächten Selbstwertgefühl ist das bei ADHS-Betroffenen überdeutlich auftretende Phänomen der Prokrastination. Stehen unpopuläre, schwierigere oder gar komplexere Aufgaben an, ist bei ADHS-betroffenen Menschen ein signifikant erhöhter Drang zum »Aufschieben bis zur letzten Minute« zu beobachten. Dies entsteht hauptsächlich aus der Selbstwahrnehmung heraus, »ohnehin keine Aufgabe ordentlich meistern zu können«. Jene Aufschieberitis kann für Menschen mit ausgeprägtem ADHS zu einer manchmal unlösbaren Hürde bei der Bewältigung auch einfacher Aufgaben werden.

Das verhaltenspädagogische Werkzeug der Wahl ist hier das »selektive Loben« (siehe auch unter »Selbstwert«).

Leidensdruck

Bei all den aufgeführten Besonderheiten, die in jedem Fall auch positive Aspekte beinhalten können, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass unter dem Einfluss eines tatsächlichen prädisponiert ausgelösten und vielleicht psychosozial verstärkten ADHS für den Betroffenen ein nicht unerheblicher Leidensdruck besteht, den es gilt, mit den multimodalen Ansätzen verringern zu helfen.