Einer unserer Verhaltenspädagogen, Gerhard Spitzer, formuliert es so: »ADHS ist nicht nur ein besonderes Lebensgefühl, sondern vor allem eine ständige Gratwanderung zwischen Eindrücken und Reizen.« Diesen Blickwinkel will KONZENTRUM am Besten praxisorientiert durch zwei Fallbeispiele deutlich machen.
Fallbeipiel: »Klettergerüste«
Der zehnjährige Jakob wurde bereits im letzten Jahr zweimal vom Schulunterricht suspendiert. Vor einem Monat war es wieder soweit. Jakobs Klassenlehrer war ziemlich aufgebracht: »Tut mir leid, Frau Schubert, Ihr Sohn ist in seiner Hyperaktivität einfach kaum mehr zu bremsen. Gestern hat er mal wieder so lange und so laut den Unterricht gestört, bis wir ihn halt nach Hause geschickt haben. Offensichtlich hat der Junge ein massives Bewegungsdefizit. Unternehmen Sie mit ihm doch ab jetzt regelmäßig sportliche Aktivitäten. Sonst muss er leider die Schule verlassen.«
Frau Schubert hat nach diesem Gespräch für Jakob, der sehr ausgeprägt von ADHS betroffen ist, umgehend eine Dauerkarte für einen großen Indoor-Spielpark gekauft. Die hatte Jakob sich ohnehin schon lange gewünscht. Dort darf er sich an zahlreichen Klettertürmen austoben, frei herumrennen, mit anderen Kindern spielen, zu jeder vollen Stunde beim animierten Kindertanzen mitmachen und rempeln, purzeln, stoßen, nachlaufen … das alles zu dem lauten Sound der neuesten Hits.
Drei Wochen später, nach sieben Besuchen in dem riesigen Spielpark, zeigt sich nun eine deutliche Wirkung: Jakob ist mittlerweile gar nicht mehr zu bremsen. Oft geht es im Klassenzimmer schon los, wenn er bloß ein paar Minuten ruhig sitzen muss: Er ist noch zappeliger als früher, plärrt noch öfter laut dazwischen, und seine unvermittelten kurzen »Wanderungen« während der Unterrichtsstunde sind noch zahlreicher geworden. Nun will man Jakob endgültig der Schule verweisen …
Fallbesipiel: »Klettermaxe«
Maximilian darf auch klettern. Er ist elf Jahre alt und in der Schule, genau wie Jakob, schon längere Zeit durch seine Zappeligkeit unangenehm aufgefallen. Auch er hat ADHS, so viel steht fest. Und nicht nur das: Auch ihm droht die gnadenlose Suspendierung, wenn sich nicht schnell etwas ändert. Die Schuldirektorin spricht also eine ganz ähnliche dringende Empfehlung für eine sportliche Betätigung des Jungen aus.
Max hat mit seinem Vater nun schon den ganzen Sommer lang klettern gelernt. Draußen an einer stillen Steilwand hängen sie beinahe jeden dritten Tag in den Seilen und konzentrieren sich jeweils auf ihren nächsten Schritt; schließlich hängt von dem einiges ab. Allein diese Herausforderung beeindruckt den Jungen sehr.
Ganz oben auf dem Grat der Felswand erwartet ihn dann jedes Mal noch ein weiterer besonderer Eindruck: Ein Panorama von besonderer Schönheit….
Als die Schule im September wieder beginnt, fällt Maximilian sofort positiv auf: Er ist zwar immer noch der kleine, unruhige Zappler, als den ihn alle kennen. Aber er stört kaum mehr den Unterricht, wirkt deutlich konzentrierter und ist auch sonst recht verträglich. Keine Rede ist mehr von Sanktionen oder gar einer Suspendierung.
Offenbar kann eine intensive Kletter-Therapie wohl doch erfolgreich sein für Zappelphilipp und Co. Wenn sie nicht grade unter dem Sound der neuesten Hits stattfindet…
Kleiner Unterschied?
Beide Kinder in den Fallbeispielen haben ihren Bewegungsdrang also gleichermaßen durch Klettern stillen können. Müsste dann nicht bei beiden eine ähnliche Verbesserung ihrer Aufmerksamkeitsspanne oder einfach ihres allgemeinen Verhaltens zu spüren sein?
Der Unterschied der diesen Beispielen zugrunde liegt, lässt sich sicher gut erkennen:
Jakob hat sich zwar viel und ausreichend bewegt, war jedoch in der lauten, von Musik durchfluteten und von hunderten Kindern frequentierten Indoor-Spielplatz-Umgebung einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt. Schnell wechselnde Betätigungen, dauernde neue Geräusche und etliche andere sich überlagernde Sinnesreize machen den für die ADHS-Symptomatik ansonsten sicher hilfreichen und zuweilen sogar therapeutischen Effekt der körperlichen Aktivitäten mehr als zunichte. Die meisten dieser starken Reize haben nichts mit der sportlichen Betätigung, oder wie die Wissenschafter es nennen: dem »Haupt-Handlungsstrang« zu tun, auf den es jedoch ankommen sollte. Jakob schenkt diesen »fremden« Reizen deshalb eine viel größere Beachtung und ist somit nicht nur beschäftigt, sondern überreizt und als ADHS-betroffenes Kind total überfordert.
Maximilian hingegen erlebt in der Hauptsache nur einen Gesamteindruck. Deshalb ist er eben beeindruckt. Er hat Zeit, wahrzunehmen und sich auf eine einzige zielgerichtete Tätigkeit mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen zu konzentrieren, obwohl oder gerade weil ihm diese Tätigkeit höchsten Einsatz abverlangt: Koordination, Körperbeherrschung, planvolles Handeln, aber auch ein ordentliches Maß an Kondition vereinigen sich hier zu einem einzigen, eindrucksvollen Erlebnis. Das Erreichen des Gipfels ist zugleich der Höhepunkt dieses eindrucksvollen Erlebnisses: der Panoramablick hinunter ins Tal.
Totale Überforderung
Da die Wahrnehmung bei ADHS-Betroffenen ohnehin durch eine Störung der Impulskontrolle beeinflusst wird, kann schon eine sehr geringe Belastung durch optische, akustische und andere Reize bereits das Maß der totalen Überforderung erreichen.
Ein betroffenes Gehirn kann die empfangenen Reize und Informationen ab einem gewissen Ausmaß nicht mehr sinnvoll verarbeiten, wodurch auch Eindrücke mit eigentlich positiver Wirkung verdrängt werden, wie etwa Beruhigung, Konzentrationsförderung, körperliche Entspannung durch Bewegung.
So ist aus der gut gemeinten Bewegungstherapie, wie sie zu Jakobs Entspannung gedacht war, eine permanente Reizüberflutung geworden, die Jakobs Zappeligkeit nur noch erhöht hat.
Jakobs Fall ist zwar sicher speziell, veranschaulicht jedoch, was wir von KONZENTRUM in Bezug auf das Thema Reizüberflutung für wesentlich halten.
Starke Reize – schwache Reize
Es muss also zunächst zwischen Eindrücken und Reizen unterschieden werden – wenn wir dies erkennen, können wir schon ein wenig mehr gegen die totale Überforderung ADHS-Betroffener tun.
Wenn Sie, liebe Eltern, die nachfolgenden Top-Tipps von Philipp auch beherzigen wollen, dann sollten Sie darüber hinaus aber auch drei unterschiedliche Wirkungsweisen von Reizen verstehen.
Reiz-Intensität: Einem grellen oder bunten Objekt schenken wir mehr Aufmerksamkeit, als wenn es beispielsweise grau ist. Ein »bunter Reiz« ist gegenüber »grauem Einerlei« also in gleichem Maße stärker wie der eines lauten Rufes gegenüber leisem Gemurmel.
Reiz-Zugehörigkeit: Hat ein Außenreiz nichts mit dem zu tun, womit man sich beschäftigt, lenkt er unsere Aufmerksamkeit viel stärker ab als eine zur Tätigkeit passende Sinneswahrnehmung.
Reiz-Bezug: Ein Reiz wirkt umso stärker, je mehr er uns persönlich betrifft.